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Schnell, Ruth: In/different Spaces (Vortrag)


Guten Abend, ich danke Ihnen für Ihr Kommen. Bevor ich, wie angekündigt, auf meine Arbeit als Medienkünstlerin, mithin auf meine künstlerische Auseinandersetzung mit technologisch bedingten Transformationsprozessen von Bild-, Körper- und Raumrepräsentationen eingehe, werde ich kurz einige Bemerkungen zum Kontext dieser Auseinandersetzung voranstellen.

Ich beginne mit einer Behauptung: Wir interagieren in unterschiedlichen teletopologischen Raum-Zeiten und produzieren virtuelle Realitäten.

Im Diskursfeld der Neuen Medien hat der Begriff Virtuelle Realität in Schlüsselposition gleichsam magische Bedeutung angenommen, nicht zuletzt deshalb, weil ein bestimmter Realitätsbegriff seine Selbstverständlichkeit noch nicht verloren hat. Was ist Realität? Was ist Wirklichkeit? Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Was ist überhaupt wirklich? Sind es die Ideen und/oder erlebte sinnliche Erfahrungen? Eine eigentliche Wirklichkeit als einzig verbindliche gibt es nicht. Ein bestimmter Sprachgebrauch deutet allerdings darauf hin, daß das Konzept der einen Wirklichkeit nach wie vor Konjunktur hat. Die Auffassung, daß Realitätsverständnis auf gesellschaftlichen Übereinkünften beruht, bestimmten Mustern und Codes folgt, die sich zudem in Auflösung befinden, hat sich noch nicht überall durchgesetzt. So gesehen kultivieren wir in der Rede von der Wirklichkeit oft Alltagsmythen, die uns einen gewissen Halt verleihen und uns von der Anstrengung entlasten, unterschiedlich konstruierte Wirklichkeiten wahrzunehmen.

Einem gängigen Verständnis von „Realität“ in der Begriffsverwendung alltäglicher Rede entspricht ein Konzept visueller Repräsentation, das sich nach wie vor am Perspektivenmodell der Renaissance, dem euklidischen dreidimensionalen unbegrenzten Raum mit vorbestimmten Betrachterstandpunkt orientiert.
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Und dies, obwohl moderne Erkenntnisse in der Physik und Mathematik in Verbindung mit der Entwicklung neuer Technologien Raum- und Zeitkathegorien erschüttert haben. Der Raum verschwand zugunsten der Zeit. Mit dem Beginn der Entwicklung von Geschwindigkeitstechnologien der Transport und Kommunikationssysteme kommt es zum Umsturz der Ordnung der Wahrnehmung. Für die historischen Avant-Garde-Bewegungen war der Spiegel der perspektivischen Repräsentation bereits zerbrochen und der Raum wurde in Maschinenzeit durchquert - Dziga Vertov: "Ich bin ein Kino-Auge, ein mechanisches Auge, ich bin ein Flugzeug und steige und falle mit aufsteigenden und fallenden Körpern". Seit der Raum mit elektronischer Geschwindigkeit durchquert wird, trifft sich Wahrnehmung mit Raumvorstellungen der modernen Physik. Der technologische Raum ist kein geographischer mehr, sondern ein Zeit-Raum oder eine Raum-Zeit, der virtuelle Raum ist ein dynamischer Zeichenraum oder ein kybernetischer Raum.

Wir bewegen uns besonders im Bereich visueller Repräsentation in einem Neben- und Gegeneinander unterschiedlicher Raumvorstellungen, es kommt dabei zu Hybridisierung, also einer Mischung mit Qualitätsveränderung der Unterschiede - In/different Spaces.

Eine künstlerische Auseinandersetzung mit visuellen Repräsentationscodes und Wahrnehmungsmodi im Bereich des elektronisch bewegten Bildes geht von einem veränderten Bildbegriff als Konsequenz und Produkt technologischer Entwicklungen aus:

Die sogenannten Neuen Medien gibt es seit ca. 150 Jahren, wenn wir ihren Beginn mit der Fotografie als Kunst einer maschinengestützen Bildproduktion datieren. Die Telegrafie, die Zerlegung eines Bildes in eine zeitlich sequentielle Folge von Punkten zur (elektrischen) Bildübertragung über große Distanzen ermöglichte die Neudefinition des Bildes als Zeitform. Die technischen Entwicklungen wie Film, elektronische Bildaufzeichnung, Bildübertragung und Bildmanipulation erlaubten nicht nur die Simulation von Bewegung und in der Folge die Simulation von Realität und die veränderte Position des Betrachters vom bildexternen zum bildinternen Beobachter (als Teil eines beobachteten Systems ), sondern erzwangen neue Zeit- und Raummodelle und eine Neudefinition von Realität als konstruierte Realität. Die Technologie des Computers weist im berechenbaren und vollkommen manipulierbaren digitalen Bild durch Virtualität und Interaktivität grundsätzlich neue Qualitäten auf: Die Virtuelle Realität, d.h. die Simulation künstlicher Wirklichkeiten und Herstellung neuer Welten hebt die bereits unscharfen Grenzen zwischen Realität und Simulation auf und verstärkt die Auffassung von Wirklichkeit als Konstruktion. Das interaktiv erlebbare elektronische Bild transformiert neuerlich den Bildbegriff. Es besteht gleichsam unsichtbar und nur als Möglichkeit, es entsteht in einem offenen Prozess wechselseitiger Dynamisierung und wird erst durch die interaktive Partizipation des Betrachters über ein Interface sichtbar existent.

Meine Arbeit im Bereich der elektronischen Bildproduktion als Auseinandersetzung mit Prozessen und Modi visueller Wahrnehmung und Raumvorstellungen setzt auf die Teilnahme eines bewegten Betrachters, der sich involviert. Es geht dabei um Partizipation an Konstruktion von Realität und medial vermittelte Raum-, Zeit- und Körperrepräsentationen.

Lassen Sie mich anhand einiger meiner dokumentierten Arbeiten exemplarisch darauf eingehen. Was Sie hier sehen sind Bilder von Bildern, das heißt Diapositive und Videoaufnahmen, die Rauminstallationen dokumentieren. Diese Dokumente haben Stellvertreterfunktion, dementsprechend sind Sie, wie Sie hier sitzen und sehen, nur Stellvertreter der Betrachter meiner Arbeiten. Die Demonstration setzt auf Ihre Vorstellungskraft von Wahrnehmungsprozessen.


Beispiel 1: Der andere Beobachter1

Sie betreten den Raum und befinden sich zwischen räumlich angeordneten Projektionsflächen, eine Videoprojektion zeigt ein fragmentiertes Auge. Sie werden gehend versuchen, den optimalen Betrachterstandpunkt herauszufinden, um das Auge als Ganzheit zu sehen. Die Installation ist so konstruiert, daß sich dieser Standpunkt nicht ergibt. Dieses Auge lebt, - es bewegt sich im Sehvorgang. Über die Iris flimmern elektronisch bearbeitete Filmbilder (Ausschnitte aus Hitchcock-Filmen). Die Schärfentiefe der Projektion changiert. Abwechselnd werden einzelne Projektionsteile scharf bzw. unscharf. Es finden sich hier einige bekannte Bild-/Betrachterdispositive leicht abgeändert und zueinander ins Verhältnis gesetzt: Der Blick aufs Tafelbild, der idealen Standpunkt wird verhindert, die Kinoleinwand blickt zurück (indem sie sich in der Iris spiegelt) und der Projektor übernimmt fokussierende Funktionen des Auges. Er wird gleichsam zum Sehorgan. Der Betrachter/Beobachter rückt ins Bild, durchläuft den Bildraum, rekonstruiert und dekonstruiert Codes visueller Wahrnehmung.


Beispiel 2: Babel2

Eine Projektion auf den Boden, anamorphotisch verzerrte Videosequenzen. Es handelt sich dabei um Archivmaterial von Fernsehberichten über Flüchtlinge in Ruanda und einem Bildausschnitt aus Brueghels Gemälde "Der Turmbau zu Babel". Die Betrachter stehen und gehen im verzerrten Bildbereich, sehen das entzerrte Bild im Spiegelzylinder, überlagert von ihrem eigenen verzerrten Spiegelbild. Der gekrümmte Endlosspiegel bildet einen eigenen Raum.

Es entsteht der Eindruck, daß die Bilder um den Zylinder kreisen. Ein kontinuierlicher Strom von Menschen zieht am Betrachter vorbei, die den Turm auf der einen Seite verlassen und auf der anderen Seite wieder betreten. Man kann den Spiegel umgehen, aber nicht "hinter" ihn treten. Diese Arbeit inszeniert einen Blick, der dem Spiegel nicht entkommt.


Beispiel 3: Tür für Huxley3, eine Referenz zu Aldous Huxleys Pforten der Wahrnehmung

Als Betrachter werden Sie Teil einer Rezeptions-Choreografie, die sich wie folgt vorstellen läßt: Sie gehen über eine Treppe, Sie werden über Bodenmarkierungen von einem Leitsystem erfaßt. Vor Ihnen an der gegenüberliegenden Wand befinden sich drei Türen. Eine davon öffnet sich. Sie sehen sich in einer Videoprojektion im Türausschnitt in Rückenansicht. Sie nähern sich, Ihr Abbild verschwindet. Wenn Sie bei der Annäherung zögern, schließt sich die Tür. Vielleicht haben Sie es vorher schon bemerkt, vielleicht fällt es Ihnen jetzt erst auf: die Tür links daneben steht halb offen. Sie blicken in Treppenräume. Sie haben eine Montage verschiedener Sequenzen aus Suspense-Filmen mit Kamerafahrten über Treppen von Hitchcock und Siodmak vor sich. In welchem Moment wurden Sie gewahr, daß beide Türen Projektionen sind? Das Leitsystem führt Sie an einem Wandbild am Boden liegend vorbei. Eine Reproduktion eines Gemäldes mit Türen und Treppen von Dorothea Tanning (einer surrealistischen Malerin). Sie gehen jetzt auf eine reale Türe zu. Das Schlüsselloch liegt in rotem Licht. Sie beugen sich nieder und blicken hindurch. Im Überwachungsmonitor begegnen Sie Tannings Bild wieder. Diesmal in schwarzweiß. Möglicherweise sehen Sie gerade eine Handbewegung, nämlich die eines anderen Besuchers, der hinter Ihrem Rücken das Bodenbild betrachtet. Sie möchten jetzt wissen, wo die Kamera angebracht ist.

Es schieben sich medienspezifische Blickordnungen ineinander und involvieren die Betrachter. Diese Installation hybridisiert unterschiedliche Raumrepräsentationen verschiedener Mediendispositive: Man nimmt sich in Rückenansicht wahr, ortet sich in dem Teil des Spiegelraums, den man gewöhnlich nicht sieht und befindet sich gleichzeitig in einem anderen Raum. Diese unterschiedlichen, gleichsam verschachtelten Räume/Räumlichkeiten mit verschobenen Raum-Zeit-Achsen verunsichern in ihrer Simultaneität. Hier werden unterschiedliche Mediendispositive partiell umfunktioniert: Es finden sich Techniken des Trompe-l‘Œil, der Scheinarchitektur, allerdings anstatt Textur und Farbe der Malerei wird das bewegte elektronische Bild, anstatt der statischen Abbildung von Architektur wird eine bewegte Projektion in Korrespondenz zur realen Architektur des Raumes eingesetzt. Der Spiegelraum ist hier doppelt invers. (Das Bild des Betrachters in Rückenansicht entschwindet bei dessen Annäherung im virtuellen Raum.) Der Blick verdoppelt sich zum Kameraauge und zum Darsteller. Er wird Teil des Spiels mit Raumrepräsentationen im Suspense-Film. Der Überwachungsmonitor suggeriert Kontrolle über Raum und Geschehen "dort", der Beobachter, in der Position des Schlüsselloch-Voyeurs wird überrascht vom "Hier".


Beispiel 4: Body Scanned Architecture4

Diese Arbeit ist ein interaktives Computerenvironment, das anlässlich der Biennale von Venedig 1995 als einer der österreichischen Beiträge im Österreich-Pavillon installiert war. Der bewegte Betrachter wird hier zum Interface zwischen Realraum und virtuellem Raum. Er „scannt“ gleichsam über seine Körperbewegungen ein virtuelles, im Realraum nicht vorhandenes Ensemble bewegter architektonischer Elemente und macht sie auf einer Großbildprojektion sichtbar. Der Bildprozess setzt sich erst durch die Betrachter und deren Bewegungen in Gang.

Lassen Sie mich das näher erläutern: Eine opake Acrylglasscheibe hängt als Projektionsfläche frei inmitten des Raumes. Eine Realkamera nimmt die Körperbewegung der Betrachter auf. Ein entsprechendes Computerprogramm filtert das bewegte Bild und transformiert dieses in einen computergenerierten virtuellen Raum. Dieser Raum konstituiert sich über virtuelle architektonische Elemente, deren Bewegung durch eine virtuelle Kamerafahrt generiert wird. Das Bild der bewegten Betrachterkörper wird zur Oberfläche der erwähnten Elemente - vergleichbar mit Stoffteilen, die über dreidimensionale Drahtgittermodelle (Wireframes) gelegt sind. Sichtbar werden auf der Projektionsfläche architektonisch verzerrte Körperbilder, die sich durch die Wechselwirkung verschiedener Bewegungsparameter im Realraum und im virtuellen Raum permanent verändern.
Teil des Konzepts dieser Arbeit ist die Wahl der Elemente im virtuellen Architekturraum. Es sind dies Zitate architektonischer Formen, wie sie Friedrich Kiesler und Josef Hoffmann entwickelt bzw. verwendet haben und ein 3D-Modell des Hoffmann-Pavillons - übrigens jenes Gebäudes, in dem sich die Betrachter gerade real befinden.

Es entsteht hier Interaktivität zwischen gegenwärtiger Bewegung und einer Sehmaschine, die sich ins Wechselspiel von Sensorium und Motorium einmischt und Wahrnehmungscodes dekonstruiert. Über eine technische Transformationsapparatur werden dynamische Beziehungen zwischen bewegtem virtuellem Raum, dem Betrachter und dessen Bewegungen im Realraum generiert. Durch Hybridisierung und Simulation ist der Betrachter sozusagen "eingelassen" im virtuellen Raum und gleichzeitig vorhanden im Realraum. Realraum wird somit zum Raum unter Räumen, er koexistiert mit anderen Raumkonstruktionen, er wird als ein Konstrukt unter anderen erkennbar. Die Vorherrschaft des Auges wird durch die Wirkung des Visuell-Sensomotorischen in Frage gestellt. Es geht nicht um Blickverhältnisse oder „Standpunkte“ sondern um Bilderzeugung durch Standpunktveränderung, um die Erfahrung der Dynamik interaktiv-koexistierender Wahrnehmungsräume, denen sich der bewegte Betrachter aussetzt und die er gleichzeitig erzeugt.

Die „Bildarbeit“ mit diesen elektronischen Medien fordert eine prinzipiell experimentierende Haltung. Und zwar nicht nur im Umgang mit Hard- und Software, sondern auch im Bereich der Vorstellungen, der Imagination bei der Erarbeitung von Konzepten. Es gibt Konflikt bei der Konzeption, Gestaltung und Programmierung eines interaktiven Environments. Bestehende Wahrnehmungsmuster und Raumvorstellungen kollidieren mit Anforderungen an visuelle Konzepte, wie sie sich in der Arbeit mit dynamischen Räumen einstellen, die verschiedene gleichzeitig wirkende Variable Zeit, Raum, Bewegung betreffend berücksichtigen. Neue Vorstellungsmodelle müssen hier experimentell entwickelt werden.


Beispiel 5: Sprache Sehen5

Im folgenden ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit visueller Wahrnehmung im Cross-over von realem architektonischen Raum und virtuellem Schriftraum. Schnittstelle ist das menschliche Auge eines Betrachters in Bewegung. Raum-zeitliches Sehen in Wechselbeziehung von Bewegung, Wahrnehmung, Sprache und Denken.

Es handelt sich um „Kunst am Bau“ für eine HTL, ein Bauwerk der Architekten Baumschlager und Eberle. Die permanente Installation besteht aus 12 computergesteuerten Leuchtstäben, die über je 64 Leuchtdioden Wörter generieren und auf 12 Etagen der 3 Stiegenhäuser verteilt sind. Sprache Sehen setzt einen freischwebend aufmerksamen Blick voraus, um den sogenannten „Nachzieheffekt"6 des menschlichen Auges, d.h. die Trägheit der optischen Wahrnehmung als Schrift im realen Raum zur Wirkung kommen zu lassen.

Die Wörter der einzelnen Leuchtstäbe verteilt im Stiegenhaus sind Teile von „Satzmaschinen“, d.h. von syntaktisch korrekten Satzstrukturen. Ein Zufallsgenerator ermittelt die jeweiligen Wörter aus verschiedenen Wortspeichern, die jedem Leuchtstab zugeordnet sind. Das semantische Material stammt aus Diskursfeldern der Kommunikations- und Informationstheorie, der Physik, Mathematik, Architektur, Medientheorie und Medienästhetik. Sinn wird über korrekte Grammatik und semantische Proliferation generiert, die Grenzen der gewählten Diskursfelder sind über „randomizing“ aufgehoben: Reduktion auf die Dynamik der Form im Wahrnehmungs- und Deutungsprozess, Sinnentleerung durch Sinnüberschuß. Von der Bibliothek aus können Elemente der Satzmaschinen durch Computereingabe modifiziert werden. Die neuen Eingaben erscheinen unmittelbar über die Leuchtstäbe, ergänzen die Wortarchive und verfallen sukzessive als Überschuß.

Die Installation bezieht sich konzeptuell auf den Kontext des Bauwerks als Schule und als sozialer Ort der Vermittlung und Produktion von vorwiegend technischem Wissen. In den realen architektonischen Raum sind Sprachstrukturen eingelassen: materiell über die Leuchtstäbe als Generatoren einer Schrift, immateriell im visuellen Wahrnehmungsprozess, die Komposition hängt vom Wahrnehmenden und dessen Bewegung im funktionalen Raum (Treppe, Treppenhaus) sowie dem spezifischen Sehakt ab. Gemeinhin ist die Bedeutung das Wesentliche. Über das elektronisch bewegte Bild und dessen technische Möglichkeiten tritt der Wahrnehmungsakt in den Vordergrund. Es kollidieren durch eine spezielle Technologie geforderte Wahrnehmungsmodi mit eingeübten selbstverständlichen Rezeptionsmustern. Der Wahrnehmende scheitert am herkömmlichen Lektüre-Dispositiv des absichtsvollen fixierenden Blicks. Die gelungene Rezeption bedeutet eine Demontage des zielgerichteten Sehakts im herkömmlich eingeübten Lektüre-Dispositiv der Gutenberg-Galaxis. Nur 5% können die Leuchtschrift auf Anhieb "lesen". Der Rest muß sich langsam auf eine besondere Art visueller Wahrnehmung einüben.

Der virtuelle Schriftraum wird über Körperbewegung zur Raumerfahrung, zum grenzüberschreitenden dynamischen virtuellen Zeichenraum im Wechselwirkungsprozess verschiedener Zeit- und Bewegungsparameter: Die Zeit der Körperbewegung (vorgegeben durch das architektonische Environment Stiegenhaus), die Zeit der Eigenbewegung des Auges, die Rezeptionszeit bestimmt durch den Nachzieheffekt, die Frequenz des Leuchtstabes, also der Leuchtdioden, die Buchstaben aufbauen und die Decodierungszeit beziehen sich aufeinander.

Anmerkungen:
1 Der andere Beobachter, 1991/92, Ruth Schnell und Kike García Roldan, Videoinstallation
2 Babel, 1993, Videoinstallation
3 Tür für Huxley, 1989, sensorgesteuerte Computer-Videoinstallation
4 Body Scanned Architecture, 1995, interaktives Computerenvironment, Softwaredesign Gideon May
5 Sprache Sehen, 1996-98, interaktive Lichtinstallation (permanent)
Mit Nachzieheffekt ist in diesem Fall jener Effekt gemeint, der entsteht, wenn durch rasche Bewegung eine punktförmige Lichtquelle als Lichtstreifen wahrgenommen wird, wobei sich entweder die Lichtquelle selbst oder der Betrachter bewegen kann.

Der Vortrag In/different Spaces wurde 1999 im Rahmen des Projektes Differenz am Institut für Kunstgeschichte der Universität Innsbruck gehalten.
Publiziert in:
Differenz, Institut für Kunstgeschichte der Universität Innsbruck (Hg.), Innsbruck 1999