Die baukünstlerische Ausgestaltung des Erweiterungsbaues, ihr Zusammenhang mit Architektur, Technik und Schulgeschehen, aber auch die heftigen Reaktionen auf diese Art moderner Medienkunst bewegten zu folgendem Text, der selbst die Sprache und das Denken in ihr sehen läßt.
Erich Troy – HTL Bregenz
Annähern
Der neue Erweiterungsbau der HTL Bregenz weicht vom Altbau farblich und gestalterisch kontrastreich ab, entfaltet aber auch in sich aufregende Gegensätzlichkeiten und Abweichungen. Außen wie innen wechseln spannungsreich hell / dunkel, horizontal / vertikal, offen / geschlossen, folgen überraschende Abweichungen vom bisher Erwartbaren: so etwa durchwegs hellere Gänge als Klassenräume, schmale Brücken zu viel breiteren Türen, aus schwarzem Boden grelles Licht von unten, statt eines geräumigen, hellen Stiegenhauses drei enge, z.T. düstere, den Blick ins Freie verwehrende Betonschächte. Unter diesen nochmals abweichend der nach außen weithin sichtbare Turm der neuen Hauptfassade als Pendant zu jenem des Altbaus. Wie dieser Symbol der Macht, aber rätselhafter, weil fensterlos, undurchsichtig, wie die anderen Stiegenhausschächte etwas geheimnisvoll verbergend: die pure Abweichung. Nach innen zunächst nur leere, abgrundtiefe, schwindelerregende Schächte mit jeweils weißen
Wänden und schwarzem Grund. Digitales Farbmuster, „ein-bit-ig“ informationsarm.
In diese informationsarmen Schächte ragen die Wendeplateaus der Stiegenaufgänge wie Aussichtskanzeln hinein, den Blick freigebend auf das distanzierte, stille, noch schweigende Weiß der Wände, nach Außen aussichtslos. Filigrane Stahlstabgeländer lenken die eng kanalisierten, oft lauten Besucherströme hart am Abgrund vorbei, bilden die lebensgefährliche Grenze zwischen chaotischen Bewegungen und freiem Fall in die Tiefe der abweichenden Schächte. Dramatische Akzente, architektonisch bewußt gesetzt. Anschwellen der Schülerströme am Rande der Unterrichtszeiten, aufwärts, abwärts und unvermittelt gegeneinander im engen Wendekreis der „Aussichtskanzeln“: Intensität der Bewegung im Zwischenraum der Geschosse: Laute Fülle des Lebendigen am Rande des Mangels ... Leere des Raums, weiß-schweigende Wände.
An einem dieser Schauplätze im Juli 1996: Merkwürdiges Hin und Her, Auf und Ab, Wenden und Schwenken, Kopfschütteln und Blinzeln ... Dramatische Momente auch im Wettbewerb um die künstlerische Ausgestaltung des Erweiterungbaus: endgültige Entscheidung über Sieg oder Niederlage. Die in Wien lebende und arbeitende Vorarlberger Medienkünstlerin Ruth Schnell gewann das Rennen; drei weitere Bewerber schieden aus.
In Museen, Ausstellungen, Galerien, Kunstmessen nähern sich interessierte Besucher den Kunstwerken, zahlen freiwillig. Besucherströme - Geldströme - überwiegend Marktmachtdynamik. Und beim staatlichen „Auslober“? Preisvorgabe - ein bißchen Wettbewerb - Entscheidung - Auftragserteilung - Kunstwerklieferung - Geldstrom. überwiegend Machtmarktdynamik. Zwangsbeglückte Schüler und Lehrer? Verschwendung öffentlicher Steuergelder? Von den Architekten aufgespartes, schwach einprozentiges Restscheibchen vom Auftragskuchen für ästhetischen Aufputz? Wie hat sich Ruth Schnell im Bewußtsein dieser Problematik der besonderen baulichen und schulischen Situation der HTL Bregenz genähert? Unerwartet einfühlend, behutsam, unaufdringlich und zurückhaltend: technisch raffiniert mit äußerster Reduktion auf die bauliche Ausgangslage antwortend. In die stabförmig hochragenden Stiegenhäuser genau im Blickfeld der bewegungsdichten „Aussichtskanzeln“, vis-à-vis der Stahlstabgeländer in
weißschweigender Wand installiert: Buchstaben, Worte, Sprache generierende Leuchtstäbe. Installation „Sprache sehen“. Sich mit einem Dutzend rotleuchtender „I“ auf weißer Fläche geheimnisvoll einschreibend, das Wesentliche verbergend. Von hier aus Entgrenzen der Sprache, des Raumes, der Zeit. Vielleicht mehr ahnend als wirklich wissend, aber letztlich nicht weniger geglückt, näherte sich Ruth Schnell der schulischen Situation. Die tatsächlich formulierten Absichten ihres künstlerischen Konzepts sind zwar nicht unbedeutend, verglichen mit den möglichen aber harmlos, ihre praktische Umsetzung bis jetzt noch traurig wirkungslos. Eigendynamik der Abweichung?
Das interaktive Kunstwerk „Sprache sehen“ spricht ohnehin für sich und durch andere in deren Eigenbewegung, entfaltet sich erst in einem komplexen Zusammenspiel von Architektur, Technik und Schulgeschehen: ein offenes, dynamisches, prozesshaftes Geschehen mit wechselnden Akteuren als eigenverantwortliche Teile eines kontinuierlich variierenden künstlerischen Gestaltungsprozesses ungeheurer Potentialität. Darin verweist es in vielschichtigen Zusammenhängen auf elementarste Vorgänge schulischen Geschehens, thematisiert die Problematik der Wahrnehmung, des Erkennens und Denkens, der Sprache, Schrift, Technik, die Rolle der Medien, die Bedeutung der Information und vieles mehr. Aber eben nur durch die gedankliche Anstrengung der Betrachter oder „Seher“. Damit ist zwangsläufig jeder seines eigenen Glückes Schmied und sieht wiederum nicht, was er nicht sieht. Nur ein verwirrendes Spiel?
Spielen und bewegen
Techniker installieren beispielsweise Anlagen, Geräte, Bauteile wie Festplatten und Chips. Diese Fachbegriffe bezeichnen zunächst Gegenständliches, Festes. Es gibt aber auch Wasser-, Gas-, Elektro- und Lichtinstallationen. Obwohl die Handwerker noch Gegenständliches wie Leitungen und Schalter montieren, bezeichnen diese Fachbegriffe schon das transportierte Medium, das Abstraktere der unterschiedlichen Aggregatzustände: Flüssiges, Gasförmiges, Energetisches. Und schließlich installieren Techniker auch Steuerungen oder Programme in Computer. Diese „termini technici“ bezeichnen dimensionslose Information, also etwas Hochabstraktes und sind selbst hochabstrakt. Information bezeichnet Information. Ende der „begrifflichen Ausbaustufen“. Trotzdem Selbstverständliches und Vertrautes im Reich der Techniker.
Aber Installation „Sprache sehen“? Da steht der weniger kunstinteressierte Techniker vorerst an. Zwar ist ihm jedes Wort vertraut, aber die Gesamtmischung unverdaulich. Woher sollte er auch wissen, daß der Begriff „Installation“ mittlerweile sogar eine eigenständige Kunstgattung bezeichnet? Aus seiner Handlungs-, Begriffs- und Erfahrungswelt blitzt kein Verständnis auf, er kann damit nichts anfangen. Kopfschütteln. Etwas Neues, Unvertrautes, Fremdes ... Verunsicherung, Irritation. Die Palette der Reaktionen reicht von entschiedener Ablehnung über gleichgültiges Ignorieren bis hin zu freudiger Zustimmung. Zur bisherigen Auseinandersetzung und Rezeption läßt sich erst eine vorläufige Bilanz ziehen:Danach wird der erste Eindruck eines weniger kunstinteressierten Technikers nicht so sehr vom magischen Effekt der Buchstaben- und Wortgenerierung beherrscht, sondern von der Frage nach dem Wie des Funktionierens dieses offensichtlich rein technischen Kunstwerkes. Eine
Bemusterung des am meisten interessierenden technischen Aspekts verspricht den größten Erfolg beim Erkunden und Erkennen des Neuen, bringt Lustgewinn und Entdeckerfreude. Näheres verrät die technische Beschreibung: Die auf drei Stiegenhäuser verteilte Installation umfaßt insgesamt 12 vertikale Leuchtstäbe mit je 64 superhellen Leuchtdioden, die mittels Computer so angesteuert werden, daß durch den „Nach-zieheffekt“ des menschlichen Auges Wörter erscheinen können. Durch die Trägheit der optischen Wahrnehmung wird eine rasch bewegte punktförmige Lichtquelle oder - umgekehrt - eine unbewegte Lichtquelle durch eine schnelle Kopfbewegung als Lichtstreifen gesehen. Diesen Verzögerungseffekt der Wahrnehmung nutzen schon lange Film und Fernsehen. Alles klar. Geglückte Enträtselung des Magischen, Zauberhaften. Die technische Beschreibung gibt weiter Auskunft: „Bei 11 (von 12) Leuchtstäben soll pro Leuchtstab ein Wort wahrnehmbar sein, das 2 x am Tag durch ein Neues ersetzt
wird. Die Wörter werden durch einen Zufallsgenerator aus einem dem jeweiligen Leuchtbalken zugeordneten Speicher (der ca. 600 Wörter beinhalten kann) ermittelt.“ In den zwölften Leuchtstab können von der Bibliothek aus neue Wörter bis max. 10 Buchstaben mittels PC frei eingegeben werden. Die schnelle Ansteuerung der Leuchtdioden übernimmt ein Mikroprozessor, das dazugehörige Programm ist auf einem Eprom mit 512 KB eingebrannt.
Prinzip und Funktion werden rasch erkannt, technische Details und Programmierung im Unterricht behandelt, die Neugier befriedigt. Und da die Kunst im Grunde genommen „tÈchnÍ“, nämlich das Herstellen neuer Dinge ist, und „techne“ ursprünglich Kunst bedeutet, wäre theoretisch ja das Wesentliche erkannt, das Interesse erschöpft. Doch weit gefehlt, Techniker fordern praktische Erprobung, Kosten-Nutzen-Analyse und hohen Wirkungsgrad. Im Rahmen einer Projektarbeit untersuchten erwachsene Schüler eines Aufbaulehrganges mittels umfangreicher Datenerhebung die Wirkung dieses Kunstwerks auf Schüler, Lehrer und - am Tag der offenen Tür - auch auf außenstehende Besucher. Das Ergebnis ist empörend.
Nur etwa 5 % der Befragten konnten auf Anhieb ganze Wörter erkennen, also äußerst schlechter Wirkungsgrad. Somit zweifelhafte Funktionalität. Und da die von der Künstlerin kalkulierten Materialkosten ein Vielfaches der von den Schülern recherchierten betragen, wurde der latente Verdacht rasch erhärtet, daß „derlei“ zeitgenössische Kunst Nepp und Schwindel sei, bestätigt durch die allgemeine Meinung von über 80 % der Befragten, die von Steuergeldverschwendung sprachen. Das Kunststück - so die kritische Meinung der Schüler - bestehe eher darin, „einer öffentlichen Einrichtung 12 rotblinkende Stäbe zum Preis von je einem Kleinwagen zu verkaufen...“
Bei bloßer Input-output-Betrachtung dieser Leuchtstab-Wortmaschinen ist diese Schlußfolgerung nicht verwunderlich. Input: Strom - output: Rotlicht-Strich. Kunst?? Kopfschütteln - plötzlicher Output: im Raum schwebende Buchstaben - heftiges Kopfschütteln: zufällig ganze Wörter. Erhebliche Abweichung vom Soll: „Die Sprachmaschine hält nicht, was sie verspricht“: Schwindel. Hält sie es, verursacht schnelles Kopfschütteln Schwindel. Die Freude am Spiel wird den meisten verdorben. „Glump“, geglückte Entlarvung des geheimnisvoll Neuen aus der weltbeherrschenden technisch-ökonomischen Sicht. Resultat: Ein mittelteures Kunstwerk wird in den Gesprächen oder Diskursen nicht nur der Techniker vorschnell zu Sinnschrott oder beispielsweise zur „brauchbaren Notbeleuchtung“ erklärt. Scheinbar erkannt und doch gründlich verkannt.
Kommunikation, Medien, Kunst und Technik folgen dem unaufhörlichen Wechselspiel oder dem Oszillieren von Neuem und Altem, der ungeheuren Informationsdynamik, die stets Neues schafft und im Bekanntwerden zu Altem vernichtet. Dieses Spiel thematisiert die Medienkünstlerin Ruth Schnell mittels neuester Technik auf der Ebene sprachlicher Kommunikation, interaktiv, mit unbekannten Mitspielern und ungewissem Ausgang.
Sprache werde innerhalb fließender Grenzen definiert, lexikalisch und grammatikalisch in der Sprachlehre einengend normiert bzw. kanonisiert, „weswegen sprachliche Überschreitungen an Schulen als Entgleisungen empfunden und möglichst unterdrückt werden.“ Im offiziellen Sprachgebrauch des Unterrichts gelten überdies auch engere moralische Grenzen, deren Überschreitung diszipliniert wird. Für den kreativen Prozeß der Spracherweiterung hätten aber moralische Überlegungen keine Bedeutung. „Das, was die Schüler in der Schule eigentlich lernen und dann doch nicht dürfen, die Grenzen der Sprache ins Amoralische oder Unsinnige überschreiten“, sollte mittels „elektronischer Graffitis“ sachte möglich werden.“ Der provozierende Einbruch des abweichend Neuen in den trauten Schoß des Geregelten wird aber so kaum gespielt. Paradoxerweise wird diese Absicht überwiegend unabsichtlich realisiert. Gerade das Unterschreiten der Grenzgeschwindigkeit zur vollständigen Worterkennung erzeugt
laufend Unsinniges, mitunter zufällig Obszönes, dadaistisches Wortgestammel. Nicht grenzüberschreitende kreative Spracherweiterung ereignet sich, sondern Unterschreitung der Wortgrenzen, Wortzerfall in Buchstaben, Auflösung des Sprachcodes. Die Kommunikation läuft, „wenn es nicht läuft.“ Sprache sehen in ihrem Scheitern. Tieferes, Grundlegenderes erblicken. Darin zeigen, was dem Kunstwerk eigen, worauf es verweist, was es symbolisiert:
Den Textspeichern der Leuchtstäbe werden durch Zufallsgeneratoren täglich jeweils zwei neue Wörter entnommen, ihrem alten Kontext entrissen und im neuen der Stiegenaufgänge durch „elektronische Schießscharten“ auf die lebendigen „Bildschirme“ bewegter Augen abgefeuert. Lichtsignalübertragung zwischen zwei operativ geschlossenen, aber energetisch offenen Systemen, maschinell das eine, biologisch, sich selbst organisierend (autopoietisch) das andere, programmgesteuert beide. Im einen radikale Reduktion der Sprache auf ihre kleinsten Informations- und Wahrnehmungseinheiten, im anderen deren Wiederaufbau zu Buchstaben und Wörtern im geglückten Zusammenspiel von Sinneswahrnehmung und Körperbewegung. Sensorium und Motorium wirken dabei zirkulär aufeinander, bilden einen elementaren Kreislauf, Beweggrund und Ursprung von Wahrnehmung, Sprache und Denken. Wahrnehmungs- unterschiede aktivieren in diesem kybernetischen Zirkel die Bewegung und Bewegungsunterschiede die
Wahrnehmung. Der Sinn der Signale des Sensoriums wird durch das
Motorium bestimmt und umgekehrt. Diese gegenseitige hochselektive Steuerung und ihre Verbindung zu Denkvorgängen ist grundlegend. Sie ermöglicht räumliches Sehen, Erkennen und Verstehen. Das zeigt auch unsere Sprache: „wahr-nehmen“, „be-greifen“, „er-fassen“, „ver-stehen“! Oder wie der Neurobiologe Humberto Maturana sagt: „Wir sehen mit unseren Beinen.“ Das Sensorische der Alltagsbedeutung verschmilzt mit dem Motorischen des Wortursprungs. Verben, Zeit- oder Tunwörter bilden den bewegenden Wortursprung der Sprache, ihren begrifflichen Boden. Die darunterliegenden Einheiten sind noch weltbewegender und fundamentaler, genial einfach und doch kaum begreifbar: Wechselspiel von Form und Bewegung in Raum und Zeit.
Die logische Struktur der Bewegung bestimmt die logische Struktur des Denkens (Annäherung: Ja - Abwendung: Nein; in Verbindung mit Zeichen: Wahr - Falsch). Das Denken strukturiert wiederum die Bewegung logisch in Unterschiede des Raumes und der Zeit. Unterscheiden und übereinstimmen. Zerlegen und zusammenbauen. Entfalten und schrumpfen. Bewegte
Lichtpunkte zu Linien und Linien zu Punkten. Aus eins mach zwei, aus zwei mach vier und umgekehrt. Im Vergleichen der Dinge Unterschiede aufsuchen und damit Information erzeugen oder im Gegenzug die Unterschiede weglassen und das Gemeinsame, Gleiche, Allgemeine herausheben bzw. abstrahieren, Information reduzieren. In allen Gesetzen des Denkens
und der Form ist unentrinnbar und unreduzierbar der abstrakte Unterschied im Spiel, hinterläßt die Differenz auf Kosten der Einheit ihre rätselhafte Spur. Sie ist die dimensionslose Maßeinheit des binären Codes, der weltbeherrschenden digitalen Logik, „ein-bit-ige“ Information. Gemeint ist nicht der umgangssprachliche Informationsbegriff im Sinne von Nachricht, Mitteilung, sondern der informationstheoretische, der auf wahrnehmbaren Unterschieden und ihrer Auswahl beruht. Information ist relativ und entsteht erst im Kopf eines bewegten Beobachters auf der Grundlage seiner Erfahrungen, Interessen, Unterscheidungspotentiale und Decodierungskompetenzen. Information ist nicht durch Kanäle übertragbar! In den weltweiten Datennetzen werden nur codierte Signale übertragen; Wahrnehmung, Decodierung, Bedeutung, Sinn und Informationswert liegen demnach unübertragbar in der Verantwortung des bewegten Empfängers: Installation einer abweichenden, aber einleuchtenden Erkenntnis. Das
Rätsel der weltbewegenden Differenz ist ihr paradoxer Ursprung, die Einheit eines ersten und letzten Unterschieds, Anfang und Ende aller Information. Die Formation der Form als Schlüssel zu allem: Zentrum des Logos. Grenze zur Performation, Exformation und Transformation. Religion und Metaphysik geben alte Antworten und Gewißheiten, zeitgenössische Denker neue: Selbstorganisation der Materie und des Lebens, Selbstbezüglichkeit, Zirkularität, Einbeziehung des Beobachters in die Beobachtung ...
„Nackte Information“ oder der reine Unterschied ist der auf sich selbst bezogene. Der Unterschied vom Unterschied ist aber die Übereinstimmung. Der reine Unterschied ist also unrein und paradox; er bedeutet sich selbst und sein Gegenteil. Dieser Widersinn hebt sich in seiner Gesamtbedeutung inhaltlich auf, übrig bleibt die sinnentleerte Form des Wortes „Unterschied“, das sich formal nicht ändert, sondern durch die doppelte Nennung sogar formstabilisierend verdichtet und im Gedächtnis nachwirkt. Am Ende verbleiben die reine Form, die Leere, der Beobachter selbst und die überschrittenen Grenzen dazwischen, Raum und Zeit beanspruchend. Formale Verdichtung und inhaltliche Aufhebung entsprechen den beiden Grundgleichungen und Axiomen von George Spencer-Browns genialer Unterscheidungslogik, ein neues Kalkül, die Mathematik des Informationszeitalters, eines der schärfsten und besten Denkwerkzeuge! Seine „Gesetze der Form“ entwickeln sich aus einer ersten markierten
Unterscheidung im unmarkierten Raum, die wiederum eines Motivs (Beweggrund!) bedarf, das es nicht gibt, „wenn nicht Inhalte als unterschiedlich im Wert angesehen werden.“ Unentrinnbare Differenz im geistig schöpferischen Kreislauf von Sensorium und Motorium. Ursprungslosigkeit ihres Ursprungs. Weltbewegendes Spiel des Bezeichnens und Unterscheidens im Überschreiten grellroter Trennlinien auf weißschweigender Wand durch schnellen Geist und bewegten Kopf aufleuchtend zur Sprache gebracht. Im rätselhaften Wechselspiel von Energie und Materie erzeugen vermutlich formwechselnde Superstrings im chaotisch rauschenden Meer der Gleichwahrscheinlichkeit wiederum durch gegenseitige Aufhebung und Verstärkung/Verdichtung bewegende Unterschiede der Form, Energie und Materie in Raum und Zeit. Kreislauf des Werdens und Vergehens, Lebens und Sterbens. Kreatives Wechselspiel von Information, Performation, Exformation und Transformation im Spannungsfeld von Zufall und Notwendigkeit.
Darin bewegen wiederum unterschiedliche Energieformen die senso-motorischen Regelkreise von Mensch und Maschine, die ihrerseits wieder atemberaubend wechselwirken, ihre Aktions- und Leistungsfähigkeit im gekonnten Zusammenspiel gigantisch steigern und das heutige hochtechnisierte Weltgeschehen entscheidend bestimmen. Auf die senso-motorische Instrumentalisierung, urprüngliche Triebfeder der Technik, folgt am Höhepunkt menschlicher Abstraktionsleistung die geistige durch digitale Computation. Erregende, grenzüberschreitende, seltsame Schleifen bildende Interaktion und Kommunikation zwischen „Maschine Mensch“ und „Mensch Maschine“. Nun aktiviert das Motorium des Menschen das Sensorium der Maschine und das sichtbare Motorium der Maschine das Sensorium des Menschen. Instrumentalisierung des Menschen und Personifizierung der Maschine. Beide arbeiten zusammen, spielen und reden miteinander, „ärgern und freuen sich.“ Künstliche Intelligenz, künstliches Leben, Eroberung
virtueller Räume, Cyberspace, digitale Netzkultur ... Hinter diesen „Spielereien und Spinnereien“ verbirgt sich eine einzigartige Abstraktionsleistung menschlichen Denkens als Ergebnis weltbewegender Kunst- und Kulturentwicklungen. Im unerschöpflichen Wechselspiel von Form und Bewegung in Raum und Zeit wurden nacheinander unterschiedliche Dimensionen abstrahiert: Zuerst die Dreidimensionalität des Körpers, das „zeitlos“ Gegenständliche der Skulptur und Architektur, daraus die Zweidimensionalität der Fläche, des Bildes, der Malerei, danach die Eindimensionalität der Linie, Herrschaft der Schrift und Literatur, und schließlich die unüberbietbare Spitze: die Dimensionslosigkeit des Punktes und der Information. Über die Bildpunkte (Pixels) der Bildschirme ist nahezu alles projizierbar. Allmächtiges Herrschaftsinstrument der Medien- und Netzkultur, die mit ihren „zeitfressenden Bildschirmaltären“ die „Kolonisierung“ der körperlichen, geistigen und seelischen Lebenswelten
betreibt. Dieses Abstraktionsspiel wird im Kontext des Gegenständlichen der Stiegenhausarchitektur in weißschweigender Fläche auf senkrechten Linien durch signalabfeuernde Lichtpunkte und bewegte Körper auf den Punkt und zur Sprache gebracht. Grandiose Reduktion eines weltgeschichtlichen Prozesses auf das Wesentliche, den Höhe- und Wendepunkt der Abstraktion, die Spur der Differenz.
Im Rausch des Erneuerns, im Erfinden und Finden des Neuen reichen sich Kunst, Technik, Medien und Wirtschaft in hochkomplexen Kreisläufen gegenseitig dienend die Hände; je stärker die Abweichung oder der Unterschied, desto größer die Dynamik der Märkte, Profite und Macht, aber auch die Kehrseite ihrer parasitären und paradoxen Medaille. DieSchnellen gewinnen und bestimmen, die Langsamen verlieren. Dieses Spiel des Lebens thematisiert sich selbst im Kontext von Architektur, Schulgeschehen und „Sprache sehen“. Täglich erlebbar im schwindelerregenden Kopfschütteln am Rande schwindelerregender Schächte eingedenk schwindelerregender Erkenntnisse im Strudel und Sog eben solcher Zirkularitäten.