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Aigner, Carl: Tektonische Körper


TEKTONISCHE KÖRPER

Carl Aigner

Mehr am Rande erwähnen will ich nur,
daß mit dem Computer überhaupt die Architektur
und Hierarchie der Kunstformen zusammenstürzt.
Florian Rötzer


Jede auf analogen Apparaten basierende Pikturalität bezieht sich letztendlich nur auf eine imitative Verdoppelung dessen, was sie (her-)zeigt. Die digitale Pikturalität hingegen eröffnet über das Relais der Simulation Räume, Körper und Architekturen der Virtualität. Dies bedeutet eine neue Relation (und Relationierbarkeit) des Verhältnisses von Körper und Architektur über den Vektor des pikturalen Raumes.

Die interaktive Computerinstallation „Body Scanned Architecture“ von Ruth Schnell spürt diesen neuen Bezüglichkeiten nach, indem sie die durch neue Bildtechnologien potentiell neue Erfahrbarkeit von Körper und Architektur auslotet. Dabei wird das klassische Verhältnis von Architektur und Körper neu gesetzt. Die Architektur des österreichischen Ausstellungspavillons in Venedig wird - unter Einbeziehung von nur im Computerraum vorhanden Architekturelementen - auf eine Projektionsfläche übertragen; virtuelle und „reale“ Architektur verzahnen sich zu einem tektonischen Raum, der nur durch die Präsenz von Personen im Projektionsraum sichtbar wird. Über eine Kamera wird der Besucher aufgenommen und ebenfalls mittels Computer simultan (re-)konstruiert. Erst durch seine realen Bewegungen werden die Architektur sowie sein „Bild“ auf die Leinwand projiziert und interaktiv verschmolzen.

Damit mutiert der Körper quasi zu einer archetektonischen Haut; die klassische Statik von Architektur wird durch die Körperbewegung der Besucher nicht nur dynamisiert, sondern durch sie überhaupt erst produziert. Via Großbildprojektion wird eine virtuelle Architektur geschaffen, die unmittelbar über das Körper-Bild der Betrachter realisiert wird. Gleichzeitig erfährt das Körperbild eine (verzerrende) architektonische Transformation, insoferne die Feedback-Koppelung von Architektur und Körper mittels retroaktiver Verfahrensweise piktural hergestellt wird. Architektur und die jeweiligen, im Raum präsenten Körper bilden keine definitiven rezeptiven Bezugspunkte, sondern stellen inverse Variablen dar.

Die digitale Simulier- und Virtualisierbarkeit von Architektur und Körper folgt in dieser Installation nicht mehr dem Modell einer „Spiegelung“; das projizierte „Bild“ ist nicht mehr ein Fenster zu einer Welt, sondern „Screen“ einer interaktiven Wahrnehmungskonstruktion. Durch die digitale Revolution ist die Spiegelmetapher als (visuelle) Erkennisform endgültig obsolet geworden. Die Wahrnehmungskonstruktion von „Body Scanned Archtecture“ ist definitiv an die Körper(bewegungen) der Betrachter gebunden. Je mehr Besucher im Raum sind, desto größer wird der projizierte Architekturraum und damit die jeweilige eigene Körperwahrnehmung. Dies ist ein weiterer, konstitutiver Aspekt der Installation von Ruth Schnell. Ihr medialer Einsatz thematisiert auch potentiell neue Wahrnehmungsmöglichkeiten von Architektur und Körper. Dabei geht es nicht nur um zwei- und/oder dreidimensionale Virtualitäten. Indem die Architektur nur über die Körperbewegung wahrnehmbar wird (und vice versa), werden sie zu visiblen Entitäten. Der Körper des Betrachters wird über architektonische Elemente gebrochen, die sich durch die reale Bewegung seines Körpers im Pavillonraum auf der Großbildprojektion visibilisieren.

Körper-, Aktions-, Projektions- und Kameraraum werden in der Installation zu Wahrnehmungsapparaten, die Selbstbezüglichkeiten und interaktive Schnittstellen erzeugen. Dadurch kommt es zu Dynamiken, die Blickpunkte potenzieren und gleichzeitig differenzierende Wahrnehmungsdispositive ergeben. Körper-Bild und Bild-Körper werden für den Betrachter „thermodynamisch“ erfahrbar. In der Sprache der Computertechnologie formuliert bedeutet dies, daß der Körper qua Architektur gescannt wird und die Architektur qua dem Körper des Besuchers: Bild und Körper verschwimmen im möglichen Spiel der Bewegungen und „tektonisieren“ sich im virtuellen Raum des Computers. Die Rezipienten sind nicht mehr passive Betrachter, sondern integrativer und integraler Teil einer Medienperformance, die erst durch deren Präsenz „real“ wird. Die Künstlerin verweigert sich damit jenen klassischen Begriffen und Vorstellungen von Architektur, Bild, Körper und Kunst, die sie als lineare und definitiv fixierbare Größen (be)denken.

Publiziert in: Schnell, Ruth: On the occasion of La Biennale di Venezia 1995, Wien 1995