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Hofleitner, Johanna: Das Sehen re-konstruieren


Ruth Schnell - Das Sehen re-konstruieren

Johanna Hofleitner


Die künstlerische Praktik von Ruth Schnell operiert in Schichten variabler Visibilität. In dieser Zone des Sehens gibt es keine Abbilder der Wirklichkeit sondern die virtuellen Bilder sind Tore zur Wirklichkeit.
Peter Weibel

In ihren medialen Installationen und Video-Skulpturen inszeniert Ruth Schnell, Vertreterin der jüngeren Generation österreichischer Video-Künstler, eine „Welt der Beobachtung”. Unter Einbeziehung des aktiven, beobachtenden Subjektes konstruiert sie neue Bildwirklichkeiten. In komplexen, auf den Möglichkeiten der digitalen Bilderzeugung basierenden Arbeiten analysiert sie den kognitiven Prozeß des Sehens als einen kulturell – durch die Kunstgeschichte wie auch durch soziale Prägung – determinierten Vorgang. Durch das dynamische Wechselspiel von Kameraführung, Organisation der Projektionsfläche(n) und Beobachtung (die zwar von der Künstlerin gesteuert, doch vom Beobachter vollzogen wird) wird der passive Betrachter – ein Konzept der klassischen hierarchisierenden Kunstgeschichte, die die Souveränität des Künstlers favorisiert hat – verabschiedet: gefordert ist nunmehr der aktive Beobachter, der als Anderer das ästhetische Geschehen integrativ mitbestimmt.
In Schnells „Welt der Beobachtung” haben die bewegten Bilder (die oft dynamisch verzerrt, verändert und manipuliert sind) ihre repräsentative Funktion abgegeben. Das Video dient, mit seiner elektronisch konstruierten Wirklichkeit, vielmehr als ein Instrument zur analytischen Auslotung des Sehprozesses.
In der für den öffentlichen Raum entwickelten Videoinstallation „Der andere Beobachter” (1991/92) hat Schnell diesen Ansatz prägnant formuliert. Die Installation besteht neben Videoplayer, -projektor und -band aus fünf Leinwänden, auf die ein vielfach vergrößertes Auge projiziert ist. Durch die fünffache Teilung der Projektionsfläche kann das Bild nur fragmentiert wahrgenommen werden: hier gibt es weder einen festen Beobachterstandpunkt noch den einen verläßlichen – der autonomen Fläche der Malerei korrespondierende – Screen. In direkter Konfrontation mit dem Blick dieses Auges ist der Beobachter, der – indem er sich in dem von der Installation erschlossenen Raum bewegt – verschiedene Standpunkte einnimmt, verführt, die Iris als Spiegel dieser seiner Umgebung zu lesen, sich also selbst als Objekt, als einen dem System der Installation unterworfenen Teil zu begreifen. Doch wird diese konventionelle Erwartung gebrochen: denn tatsächlich flimmern über die Iris dieses sehenden Auges Filmbilder, die ihrerseits wieder eine andere Wirklichkeit reflektieren – „eine Umgebung, in der sich der Betrachter nicht wiederfinden kann” (R.S.). (Daß auch diese konstruiert und virtuell ist, unterstreicht Schnell, indem sie diese Bilder elektronisch bearbeitet, mithin verfremdet hat).
Das fragmentierte Videobild und seine sich ständig verändernden Inhalte werden zur Metapher für die Konstruiertheit des Sehvorgangs. Der Beobachter wird hier als der immer „Andere” ausgewiesen. Denn sowohl die Künstlerin wie auch der „aktivierte” Betrachter und schließlich – in der konstruierten Wirklichkeit des „filmischen” Geschehens – das fragmentierte Auge finden sich hier in der Rolle von Beobachtern unterschiedlicher Wahrnehmungsebenen wieder.

Raum als Feld des Experiments

Sehen und Bewegung als dynamische, sich im Raum ereignende Vorgänge sind Thema der „Tür”-Arbeiten („Tür I”, 1988; „Tür für Huxley”, 1989; „Tür für Heine” 1990) – einer Reihe verwandter Computer-&Video-Installationen, in denen Ruth Schnell mit der elektronischen Simulation architektonischer Durchgangssituationen (Türen, Fenster, Treppen) arbeitete. Hier findet sich der Beobachter, wenn er auf die vom Video simulierte Tür zugeht, in der paradoxen Situation wieder, daß er zugleich vor und hinter der Kamera, zugleich Objekt und Subjekt der Darstellung ist. Sobald er sich von der interaktiv gesteuerten Kamera entfernt und auf den Screen zubewegt, scheint er sich zwar paradoxerweise von diesem zu entfernen. Vertauscht man aber die Pole, negiert man also, daß die Kamera als Spiegel der Welt funktioniert, dann ergibt sich daraus, daß das Auge des Beobachters den Aufzeichnungsprozeß der Kamera verdoppelt und wiederholt.
Daraus kann abgeleitet werden, daß der Sehprozeß in Entsprechung zur Funktion des Videos als ein die Wirklichkeit konstruierender Prozeß analysiert wird. Der Raum ist also nicht mehr eine Bühne, auf der das interaktive Geschehen stattfinden kann, der Beobachter ist kein von der Regie des souveränen Künstlers abhängiger Akteur. Der Ort des Geschehens ist vielmehr als ein dynamisches Feld eines Experiments angelegt, das von den beteiligten Beobachter(n) kontrolliert wird.

Schnittpunkte der Wirklichkeiten

In der für die Venedig-Biennale 1995 konzipierten Arbeit „Body scanned Architecture” wird der architektonische Raum zusätzlich erweitert, indem – neben der Bezugnahme auf den realen Raum des Hofmann-Pavillons, der in digitalisierter Form zu einem Teil des durch die Bewegungen der Betrachter im Raum ausgelösten Video-Bilder wird – in der virtuellen Realität des Cyberspace der Verweis auf Friedrich Kieslers visionäre Architekturentwürfe erfolgt. Der Körper wird zur „Schnittstelle zwischen virtuellen und realen Räume” (1).
So überlappen sich unterschiedliche Sehweisen, die nicht allein an das situative Hier und Jetzt der installativen Gegebenheit gebunden sind. Neben den historischen Referenzen akzentuiert eine kleine zeitliche Interferenz (bis das Bild der interaktiven Intervention des Betrachters folgt) die Erweiterung der für Skulpturen wie auch Installationen typischen Dreidimensionalität um die vierte Dimension, die Zeit.

Der Körper der Dinge

Als räumliche Video-Skulpturen befinden sich Schnells mediale Installationen am Schnittpunkt von analoger und digitaler Wirklichkeit, von Gegenständlichkeit und Virtualität. Integrierte Alltagsgegenstände, die die künstlichen Bilder aufnehmen, verweisen auf die Welt der Dinge, werden aber umgedeutet im Sinn der Vermittlung zwischen den verschiedenen Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsebenen.
So fangen etwa in der Video-Skulptur „laufende Projekte” (1993) zwei vor die weiße Wand gehängte Milchglaskugeln Video-Projektion auf, so daß die „laufenden” Bildsequenzen auf diesen, wenn auch verzerrt, scharf erkennbar sind und sich auf der dahinterliegenden flachen Wand durch den Schatten nur fragmentarisch und durch die unterschiedliche Distanz diffus abzeichnen. Die Lichtkugel wird zum Lichtempfänger.
Ähnlich fungierten in „Video-Schwelle” (die Arbeit entstand 1988 in Zusammen-Arbeit mit Gudrun Bielz im Rahmen des öffentlichen Projekts „Freizone Dorotheergasse”) zwei Straßenschwellen aus Beton als Träger für acht Schwarzweiß-Monitore: Indem die Bestimmung der Gegenstände – die Pole ihrer materialen Bedeutung – umgekehrt werden, wird hier die Video-Skulptur buchstäblich zum Stolperstein der automatisierten Wahrnehmung. Die virtuelle Realität verschränkt sich mit der Welt der Dinge, die Grenzen zwischen beiden werden durch den künstlerischen Verfremdungsprozeß sichtbar gemacht.

Kulturalität – Materialität – Virtuelle Realität

Für eine Gruppe neuerer Arbeiten, die Schnell 1997 in der Galerie Lisi Hämmerle in Bregenz und 1998 unter dem Titel >prét à porter< in der Wiener Galerie Grita Insam ausstellte, verwendete Ruth Schnell weiße auseinandergefaltete Papiertragetaschen, zum Teil einzeln, zum Teil akkumuliert, zum Teil gestapelt als Screen-Ersatz.
Projiziert sind darauf unterschiedliche Vorgänge: Die aus 24 Taschen gebaute „Treppe” – die inhaltlich scheinbar selbstbezüglichste Arbeit – zeigt Sequenzen taschentragender Frauen: und zwar sowohl von Konsumentinnen mit prallen Einkaufstauschen wie auch von Obdachlosen, für die die Tasche oft das einzige Behältnis ist, in dem sie ihr Hab und Gut verstauen können. Die Wandarbeit „Positionen” zeigt die Beine von Frauen, die „typisch weibliche” (zumeist verkrampfte) Körperhaltungen einnehmen. Vom Konkurrenzkampf zwischen der Textilkünstlerin Arachne und der Pallas Athene erzählt schließlich die Textprojektion „Ovid”.
Auf „Search” schließlich, einen Turm aus zehn übereinandergelegten offenen Taschen, ist das Rauschen projiziert, das beim Suchen eines TV-Kanals entsteht. Die aufs erste irritierende und augenscheinlich auch inhaltslastige Bezugnahme der Ausstellungsinszenierung auf europäische Konsum-, Kultur- und Verhaltensmuster (wobei sich auch hier, wenngleich unter anderen, diesmal gesellschaftskritischen Gesichtspunkten, die Thematik des „Anderen” wiederfindet) löst sich Schritt für Schritt in der Reflexion der medialen Zusammenhänge – Video, Fernsehen (Portable-TV!) – auf. Kulturell mannigfach besetzte Behälter werden einerseits zum Bild-Schirm funktionalisiert. Die Projektion darauf ist andererseits ein Spiegel von kulturellen Determinationen. So oszilliert >prét à porter< als ironisches Zeichen zwischen Konsumfetischismus und Moden sowie deren Kehrseiten einerseits und der Verschleifung von klassischer wie auch elektronischer Kultur in den Alltag andererseits.

Ästhetik der virtuellen Realität

Wenngleich im hier gegebenen Rahmen nur einige Schlüsselarbeiten besprochen werden konnten, wird deutlich, mit welcher Konsequenz Ruth Schnell seit den achtziger Jahren die Konstruktion und Konstruiertheit von Wirklichkeit und damit die für die neuen computergestützten und telematischen Bildmedien charakteristische „Transformation der Vorstellungen von Bild und Raum, die Entfaltung des Sehens, des Körpers und des Raums” (2) untersucht. Wie sehr diese Untersuchung neben dem radikal Neuen ihrer Technologie alte, von einer hierarchisierenden Kunstgeschichte marginalisierte Erkenntnisfragen wiederaufwirft, zeigen Schnells „anamorphe Installationen”: „Babel” (1992), das Work in progress „Co-Verzerrung” (1993) oder „Fleckvieh & Kontinente” (1994), die sämtlich mittels elektronischer Medien die mittelalterliche Technik der Anamorphose mit ihrem außerhalb des Bildes angesiedelten Blickpunkt auf das bewegte, durch die anamorphotische Verzerrung undendlich fragmentierte Video-Bild übertragen.
Wurde schon in der klassischen Malerei (z.B. Holbein) bei diesem Extremfall der „sanft-süßen Zentralperspektive” das „Betrachtersubjekt kalkuliert exzentrisch” (3), so kann sich das Bild nun, in der virtuellen Realität, vollends entkörpern und verflüssigen. Die Rolle des Betrachters wird hier explizit neu definiert. Denn erst durch seine kognitive Re-Konstruktion wird das Bild als Ergebnis von Bildkonstruktion nachvollziehbar – und damit der Prozeß des Sehens als unendlicher verstehbar.



(1) Peter Weibel, in: „RUTH SCHNELL on the occasion of LA BIENNALE DI VENEZIA 1995”. Wien 1995, S. 1.
(2) Ders.
(3) Ursula Panhans-Bühler: „Von Anna‚s Morphose zur Anamorphose”. http://www.khs.uni-kassel.de/prof/upb/morphose.html
(4) Vgl. dazu Arthur Krokers Darlegung zur Funktion der Anamorphose in der „Ästhetik der virtuellen Realität”. In: „Datenmüll”. Wien: Passagen Verlag 1997, S. 72 ff.