DE / EN
 
Sitemap  
DE / EN
Eiblmayr, Silvia: Die Topographie des Untergrunds


Die Topographie des Untergrunds

Silvia Eiblmayr

„Topographie II: Untergrund“ ist Teil eines Projekts, das sich konzeptionell mit der heutigen Problematik des städtischen und öffentlichen Raumes befaßt'). Schon die semantische Ambivalenz des Titels verweist auf zwei Seiten des Phänomens des Urbanen. Einerseits klingt hier die Terminologie von Technokratie und Bürokratie an, andererseits kommt etwas von der verborgenen „Unterseite“ der Großstadt ins Spiel, die der Rationalität urbaner Planung entgegensteht. Es sind die Technologie und die Verwaltung, die das Leben in einer zunehmend urbanisierten Welt regeln, die nach Frederic Jameson gemäß der Logik des heutigen multinationalen Kapitalismus zu einem „postmodernen Hyperraum“ mutiert ist. Was dabei auf der Strecke bleibt, schreibt er, „ist die Fähigkeit des individuellen menschlichen Körpers sich selbst zu orten, seine unmittelbare Umgebung wahrnehmungsmäßig zu organisieren und die eigene Position in der Kartographie der äußeren Weit einzutragen“ 2). Bei „Topographie II: Untergrund“ geht es um die Problematisierung dieses Raumes im Sinne der von Jameson geprägten „Ästhetik der kognitiven Kartographie“. Auf die künstlerischen Konzepte bezogen, heißt das, der unrepräsentierbaren Totalität des postmodernen Raumes etwas entgegenzusetzen, um die „imaginäre Beziehung des Subjekts zu den realen Bedingungen seiner oder ihrer Existenz“ (Althusser), sinnlich und kognitiv erfahrbar zu machen.3)
Mario Perniola weist darauf hin, daß die für die moderne Metropole entwickelten Kategorien des Urbanen ihre Gültigkeil verloren haben: „( ...) die Verbreitung ein und derselben kulturellen Modelle auf kontinentaler, ja globaler Ebene, die weltweite Verstreuung von Dingen, Situationen und lokalen Problematiken sowie das Zusammentreffen von Telekommunikation und Informatik, um weltumspannende Vernetzungen herzustellen, all das macht ein bloß territoriales Verständnis des urbanen Phänomens obsolet.“4) In dieser Charakterisierung des Urbanen sind zwei miteinander verknüpfte Momente besonders hervorzuheben: Der „kritische Raum“ (Paul Virilio)5) der telekommunikativen Vernetzung und der Verlust der „kritischen Distanz“ (Jameson), der nicht nur auf die körperliche Beziehung zur urbanisierten Umwelt gemünzt ist, sondern auch auf jene kritische Kategorie der Moderne, die, sei es in der Kunst oder in der politischen Theorie, für sich noch den Anspruch stellen konnte, eine Position außerhalb jenes Geschehens einzunehmen, gegen das die ästhetische und politische Kritik gerichtet war. Hier läßt sich ein historischer Bogen zur „Einführung in die Kritik der städtischen Geographie“ (1955) von Guy Debord schlagen. Das situationistische Programm bezeichnet einen Schnittpunkt zwischen dem avantgardistischen Anspruch zur Subversion und dem Verlust der ästhetischen Distanz zu den Bereichen des alltäglichen urbanen Lebens. Auch wenn Debords Forderung nach der radikalen Veränderung der Lebensgewohnheiten der Bewohner der städtischen Räume sich nicht unter dem Vorzeichen jenes revolutionären Pathos erfüllt hat, mit dem die „psychogeographische Forschung“ des Künstlers ausgestattet wurde, kann der (etwas abgewandelte) Begriff der „psychotopographischen Forschung“ herangezogen werden, um ein Konzept zu begründen, das als Schauplatz für Videoinstallationen das städtische UBahnsystem gewählt hat. Die UBahnstation ist ein paradigmatischer architektonischer Ort im urbanen Gefüge, in dem zwei technische Systeme miteinander verschränkt werden, die den Strukturwandel der Stadt und des öffentlichen Raumes entscheidend beeinflußt haben. Es sind dies zwei Transportsysteme: das Massenverkehrsmittel Bahn und das elektronische Transmissionssystem. War die Bahn der erste „Raumkompressor“, der die Distanzen verkürzt hat, so hat die „teletopische Revolution“ (Virilio) einen zusammengezogenen „Echtzeit/Raum“ hervorgebracht, in dem noch so entfernte Orte auf NullDistanz zusammenrücken. Der Lichtgeschwindigkeitsfaktor der elektronischen Übertragungsmedien hat, wie Virilio feststellt, ein neues Intervall erzeugt, das Lichtintervall (die Schnittstelle, das Interface), das dabei ist, die konventionellen Raum und Zeitintervalle, durch welche die Geographie und die Geschichte strukturiert werden, zu verdrängen. Als Folge der digitalen Vernetzung kommt es nicht nur zu einer Urbanisierung des gesamten Raumes, sondern auch der Zeit und in weiterer Konsequenz des menschlichen Körpers, der an diese Netze direkt angekoppelt ist, sei es durch den Fernseher oder durch das Computerterminal, und der dadurch selbst zur Schaltstelle wird.6)
Genau an dieser Schnittstelle zwischen realem und virtuellem Raum, zwischen einer materiellen und einer immateriellen Infrastruktur, läßt sich die Symptomatik der heutigen Stadt erfassen und die UBahnstation ist der exemplarische Ort dafür. Sie ist die unter die Erde verlegte Passage des 20. Jahrhunderts, die jene des Flaneurs des 19. Jahrhunderts abgelöst hat. Das elektronische Licht des Monitors prägt die Wahrnehmung und das Bild der postmodernen Stadt so wie das Licht der Gaslaternen das Bild der modernen Stadt des vorigen Jahrhunderts geformt hat. Die UBahnstation repräsentiert in verdichteter Form die sichtbare und unsichtbare Dynamik des Urbanen, die Zirkulation und die Bewegungsströme, die den Körper der Stadt durchziehen und transzendieren. In ihr verschränken sich modellhaft die Maschinerien der Moderne und der Postmoderne, auf deren entscheidendes Moment der Differenz Jameson hinweist: Während die ältere Maschinerie der Moderne, die der Lokomotive oder des Flugzeugs, selbst Bewegung repräsentiert, kann die neue postmoderne Maschinerie nur in Bewegung repräsentiert werden. Genau hier, sagt Jameson, „konzentriert sich etwas von dem Mysterium des postmodernen Raumes“.7) Video, als Technologie selbst integraler Teil dieser Maschinerie, ist das adäquate Medium, um dieses „Mysterium“ künstlerisch zu decodieren, um BildSprachen zu schaffen, die der Realität unserer imaginären Beziehungen zu diesem (urbanen) Raum symbolischen Ausdruck verleihen können.
Die „psychotopographische Forschung“ der Künstler/innen in „Topographie II: Untergrund“ setzt fast durchgängig an zwei Ebenen an, die strukturell miteinander verknüpft werden: Die eine ist der gegebene Raum, das architektonische oder stadträumliche Umfeld, in seiner materiellen und historischen Substanz, gleichsam das großstädtische Interieur, in das die Videoinstallation eingefügt wird. Die zweite ist die Ebene der körperlichen Wahrnehmung, die Ebene der körperlichsinnlichen Beziehung sowohl zu den realen als auch zu den imaginären Räumen, die durch die elektronische Bild und Informationsmaschinerie produziert werden. Konzeptuell ergibt sich daraus, daß das Werk nur im Kontext dieser besonderen örtlichen Situation seine spezifische Bedeutung und Wirkung erhält.
The Space Between 1 and 2 (Gudrun Bielz/Ruth Schnell), Under the Surface (Tina Keane) genauso wie UVISION (Dominique GonzalezFoerster, Bernard Joisten, Pierre Joseph, Philippe Parreno) und in vermittelter Form auch Safe and Secure (Julia Scher) nehmen die jeweiligen architektonischen Parameter der Stationen auf und machen diese zum Teil der Installation. The Space Between 1 and 2 bezeichnet einen konkreten architektonischen Ort, eine erste und eine zweite Ebene innerhalb der Station. 1 und 2 sind aber genauso imaginäre Fixpunkte in einem Koordinatennetz, dessen Grenzen offen sind. In der „Videobaustelle“ reißt ein tiefer Schacht den Raum in vertikaler Richtung auf, einen Stock tiefer fluchtet ein horizontaler Fußgängertunnel in illusionäre Räume. Die Bilder der projizierten Scheinräume paraphrasieren und subvertieren die Architektur der UBahn (1980 gebaut), deren technoider Code von den Verheißungen einer technologisch mobilen Gesellschaft spricht. Die architektonische Haut wird aufgerissen, den Menschen der Boden unter den Füßen weggezogen, um den Blick auf andere Verkehrsräume durchquert von Autos und einem Flugzeug freizugeben, deren Dimensionen und Distanzen nicht auslotbar sind. Im realen Tunnel darunter steuern sich die Betrachter als Schaltstelle durch ihre Interaktion selbst die Ausblicke in die Klischeeräume einer kollektiven Phantasie. Das magische Kameraauge tastet sich vom Körper, der Kleidung, zum privaten Innenraum vor, durchdringt die Wände, findet sich plötzlich in der Stadt wieder, in einem Autotunnel, in einem Park, vor der barocken Karlskirche und landet neben einem Schiff im Meer. In Intervallen holt die Realität die Reisenden wieder ein, wenn der einfahrende Zug durch eine LiveKamera übertragen, die Szenerie durchquert.
Tina Keane verknüpft mit Under the Surface zwei historisch unterschiedliche architektonische Orte in einer Station im Zentrum der Stadt und an einer Endstation. Ihre Räume sind unbeachtete, tote Winkel, der eine ein Hohlraum unter Gittern, der andere ein oben mit Brettern verschlossener, stillgelegter Aufgang zur Eisenbahn, den die Künstlerin vorne ebenfalls mit einem Gitter verschlossen hat. Keane nimmt die architektonischen Strukturen und die Rhythmik dieser vorgefundenen Orte auf und verschränkt sie mit der poetischen Struktur ihrer Videobilder. Über die unter den Gittern liegenden Monitore in Part 1 Underfoot flimmert ein geklittertes Universum in nuce, Ausbeute des Eroberungsfeldzugs der optischen Technologien. Ein bellender Hund springt wie verrückt ein Effekt der Schnittechnik in seinem „Käfig“ hin und her. In Part 2 End of the Line finden wir den Hund wieder, diesmal auf einem von einem realen Käfig umschlossenen Monitor. Das Neonzeichen „Silence“ bildet einen paradoxen Gegenpol zu dem realen Lärm der rollenden Züge. Sowohl die, Raster der Gitter als auch die stufige Brechung der in den Stiegenaufgang projizierten Videobilder konvergieren in abstrakter Schönheit mit dem Raster der digitalen Bildstruktur und konstruieren ein neues Alphabet, das die brüchige Dialektik von Under the Surface zur Sprache bringt.
UVISION integriert sich in vielschichtiger Weise in das urbane System der UBahn. Getarnt als TVProgramm usurpiert es zwei Informationsstellen in Stationen in der City und benützt ebenfalls den technoiden Rahmen der Architektur, die die Ästhetik des Monitors gleichsam verdoppelt. Im Code der TV-Werbe und LogoKultur wird dem Betrachter die systemkonforme Einfärbung seines Blicks Vor Augen geführt. In einer inhaltlichen Rückkoppelung zwischen Transport und Transfersystem laufen die in den Farben der UBahnlinien getönten Informationen über die Bildschirme. Ein Pasticchio der postmodernen illusionären Verfügbarkeit der Bilder und der Orte, in dem sich die Geschichte und die Geographie gleichermaßen auflösen und nicht nur die Körper, sondern die Natur generell kolonisiert werden. UVISION funktioniert zugleich als Metatext, der diese imaginäre Raum/Zeitmaschine mit subtilen Querverweisen kommentiert. Es spielt mit der Faszination der Bilder und ihres technologischen Transfers und zeigt, daß hier das manipulative Potential liegt, das jede „lnformation“ einem Egalisierungsprozeß unterwirft, dem auch das Kunstwerk nicht entgeht.
Peter Fend und Julia Scher beziehen in ihren kritischen Positionen die Situation Wiens in die Parameter ihres jeweiligen konzeptuellen Architekturbegriffs mit ein. Fend geht es um eine Architektur im weitesten globalen Sinn, um eine topographische Neuordnung der Welt, die sich nach ökologischen Kriterien richtet. Julia Scher sieht das öffentliche Überwachungssystem als Teil des urbanen architektonischen Körpers, und zwar in ganz sensueller Bedeutung als Oberfläche, als Haut, und zugleich als elektronisches Nervensystem, das diesen Körper durchzieht. Beiden gemeinsam ist die künstlerische Strategie, als Firma oder Gesellschaft aufzutreten: Scher als fiktive Firma Security by Julia, Fend auf der Basis eines legalen, institutionalisierten Unternehmens, der Ocean Earth Development Corporation.
Fends Begriff von „Heimaten“ konstituiert sich aus einer topographischen Zugehörigkeit, die nationale Grenzen negiert. In der Wiener Arbeit handelt es sich um das Gebiet innerhalb aller Wasserscheiden der Gewässer des Schwarzen Meeres. (Ein Plakat mit dem Titel HEIMATEN, das nur diese, aus einer Landkarte ausgeschnittene geographische Figur zeigt, wurde in den Stationen der U-Bahn angebracht). Die Grenzen der urbanen Topographie von Wien an der Donau werden damit in einem ökologischen Kontext neu gezogen. Dabei ist für Fend und Ocean Earth eines entscheidend: Das Konzept, das Werk sind topographisch und nicht politisch per se. Erst die Intervention des Künstlers, dessen direkter und durch das Gesetz zu garantierender Zugang zu unverfälschten Daten und Informationen über die Problemzonen der Welt und die damit verbundene Veröffentlichung machen das künstlerische Konzept politisch effektiv. „Das Anliegen ist ein physisches, ich möchte, daß mein Körper gesund ist“ (Fend). Für Fends Aktionismus heißt das, Geschäftsmann, Wissenschaftler und subversiver „Spion“ zugleich zu sein, dessen Agens aber die künstlerische Phantasie ist, die seinen Intentionen eine neue kognitive Ebene verschafft.
Julia Scher fragt nach dem Effekt der „Physik der Macht, die ihren Zugriff auf den Körper nach den Gesetzen der Optik und Mechanik“ (Foucault) und, wäre hinzuzufügen, der Elektronik vollzieht. Ihre Installationen mit Monitoren und Überwachungskameras, die sich mimikryartig an die vorhandene Architektur anpassen, sind Versuchsanordnungen, die die Passanten zum Subjekt und Objekt der Überwachungstechnologie machen. In scheinbarer Echtzeit mischen sich fiktive und live übertragene Bilder, in die im Polizeiton gehaltene Texte eingespielt sind, gleichsam die Stimme aus dem off eines autoritären ÜberIch. Aufgeregter Kommentar von zwei Frauen im Vorstadtbezirk, die sich in Safe and Secure wiedererkennen: „Das sind ja wir! Womöglich landen wir jetzt in einem anderen Kontinent. Es ist gefährlich unterwegs zu sein.“
Die technischen Möglichkeiten des Mediums Video zeigen eine auffallende Parallele zu dem von Freud geprägten Vokabular für psychische Prozesse. Projektion, Übertragung, Verschiebung, Verdichtung, Wiederholung finden mit allen ihren raumzeitlichen Implikationen eine virtuose Umsetzung in der Videokunst.
Gary Hills Split Time Mystery führt in atemberaubender Weise vor, wie sich die visuelle körperliche Wahrnehmung strukturell mit den Maschinerien der Bewegung verschränkt. Die psychische Apparatur verknüpft sich mit der technischen, die Form der Wahrnehmung definiert den Inhalt. Die computergesteuerten, zerhackten Sequenzen der Bilder, die Kader für Kader einzeln geschnitten wurden, haben den Effekt eines Traumes, dessen scheinbar harmloser manifester Inhalt sich plötzlich in latente Abgründigkeit verkehrt. Dies wird durch den Ton verstärkt, der als Originalton mit den vor Ort gedrehten kurzen Szenen aufgenommen wurde, aber ebenfalls durch die Computersteuerung verfremdet wird. Gary Hills Visualisierung eines urbanen Szenarios führt zurück zu einem Schlüsseltext zur modernen Großstadt, E.A. Poes „Der Mann in der Menge“, den Walter Benjamin als „Röntgenbild einer Detektivgeschichte“ bezeichnet. Es gibt keine Handlung, nur Bilder der Menschenmassen, die der analysierende Beobachter im Kaffeehaus - 'die Stirn an die Scheibe gepreßt' an sich vorüberziehen sieht. Liegt das „Mysterium“ der Großstadt, das Poes poetische Sprache strukturiert, in der Bewegung der Menge, so ist es heute das „Mysterium“ der postmodernen Bildmaschinerie, das in „Topographie II: Untergrund“ zur Sprache kommt.

Anmerkungen

1) ”Topographie II: Untergrund“ ist Teil einer Projektreihe der Wiener Fest wochen mit dem Titel ”Topographie. Sachdienliche Hinweise“. Die Reihe wurde diesen Herbst mit zwei Projekten begonnen. Zugleich mit dem Videoprojekt findet ”Topographie 1: Festraum“ statt. (26.9.11.11.91, Künstler: Lawrence Weiner, Martin Kippenberger). Beide Projekte begleitend hat Gerwald Rockenschaub ein Konzept zur Reflexion unterschiedlicher Medienräume entwickelt.
2) Frederic Jameson, „Postmodernism, Or, The Cultural Logic of Late Capitalism“, Duke University Press, Durham, S.44 (l. Kapitel, erstveröffentlicht in: New Left Review, no. 146, JulyAugust, 1984)
3) F. Jameson, op.cit., S.51
4) vgl. Mario Perniola, „Urban, mehr als urban“, in diesem Katalog, S.17
5) Paul Virilio, „Das dritte Intervall. Ein kritischer Übergang“; in: Edith Decker, Peter Weibel, Hrsg., „Vom Verschwinden der Ferne. Telekommunikation und Kunst“, DuMont, Köln 1990, S.335346
6) P. Virilio, op.cit., S.336338
7) F. Jameson, op. cit., S.45

Publiziert in:
topographie II: Untergrund - Videoinstallationen in der Wiener U-Bahn
Hrg. Wiener Festwochen, Wien 1991