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Dankl, Günther: Eine künstlerische Begegnung


1370/72-1990: Eine künstlerische Begegnung

Günther Dankl

Der ALTAR VON SCHLOSS TIROL, um 1370/72; einer der ältest erhaltenen Flügelaltäre des Alpenraumes und Mittelpunkt der gotischen Sammlung des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum. Eine Installation des Mittelalters, in dem Bild, Skulptur und Ornament sich zu einem religiösen Gesamtkunstwerk vereinen. Im geschlossenen Zustand ein äußerst einfaches, eher profanes und politisches als religiöses Dokument darstellend, zeigt sich sein eigentliches ikonographisches Programm erst bei geöffnetem Zustand. Szenen aus dem Marienleben, dargestellt in 6 Einzelbildern, jedes für sich stehend und dennoch eine Einheit, ein Gesamtbild bildend, in welchem lkonographisches und Immaterielles ineinander übergehen. Die beherrschenden Farben- Rot, Blau, Grün - und vor allem Gold als Symbol für das „himmlische Licht" und als Zeichen für die "göttliche Offenbarung".

BOX I + II, 1990, zwei installierte Videoskulpturen des Künstlerinnen-Duos BIELZ/SCHNELL. Ein kühl und distanziert wirkendes Gehäuse aus Metall, mit 5 schmalen Sehschlitzen versehen. In diesen erscheinen Videobilder, die für sich und dennoch in einem Zusammenhang mit den übrigen zu stehen scheinen: Schriftzeichen oder einfache geometrische Formen, in den Farben Rot, Blau und Grün, die in bestimmten Abständen verschwinden, um an anderer Stelle wiederum aufzutauchen. Sie bilden ein eigenes Zeichensystem innerhalb der Skulptur, die das ihr eingeschlossene Bild, ihren Inhalt, ähnlich dem gotischen Flügelaltar, nur in Teilbildern, preisgibt. Die scheinbare Unordnung und Zufälligkeit entpuppt sich erst bei genauerer Betrachtung als logischer Ablauf, als Dialektik von Wahrnehmung und Imagination, von Teilbild und Gesamtbild und von materieller Beschaffenheit und immaterieller Vorstellbarkeit.

Dem Flügelaltar von 1370/72 als Installation gegenübergestellt und mit diesem durch einen Lichtbalken verbunden, ergeben sich trotz der zeitlichen Distanz von über 600 Jahren und trotz der Verschiedenheit der Darstellungsformen Parallelen durch die Ähnlichkeit der systemimmanenten Bildsprache: beide Werke sind Inszenierungen von Realem und Projiziertem, von realem Teilbild und imaginärem Gesamtbild, beide spielen mit der Vorstellungskraft des Betrachters, mit seinem Vermögen, für sich bestehende Bilder und Formen zu einer geschlossenen Einheit und zu einem Ganzen zu vereinen. Während jedoch im Flügelaltar eine klare Trennung zwischen Außen und Innen, offenem und geschlossenem Zustand hergestellt wird, sind die installierten Skulpturen offen und geschlossen zugleich: durch die äußere Hülle strahlen die inneren Bilder nach außen und erzeugen somit ein interaktives Spiel, das auf den Betrachter zurückgeworfen wird.

Die in den Video-Bildern zur Anwendung kommenden Farben Rot, Blau und Grün sind eine Reminiszenz an die Farbgebung in den Bildern des Flügelaltars. Der symbolische, an der christlichen lkonographie der mittelalterlichen Kunst ausgerichtete Gehalt jedoch wird nunmehr vom Dogma der Technik und Elektronik überlagert: Rot, Blau und Grün sind die Grund- und Ausgangsfarben für die Farbmischung der elektronischen Medien Fernsehen und Video - die elektronische Kultur schafft sich damit zugleich die ihr entsprechende Farbsymbolik. Das Gold als Zeichen für das "himmlische Licht" und als Symbol für die "göttliche Offenbarung" wird in den Videoskulpturen ersetzt durch das durch die Sehschlitze noch außen dringende licht des Monitors, dem Glasfenster des modernen elektronischen Zeitalters.

Die Botschaft von BOX I + II von Gudrun Bielz und Ruth Schnell ist vielschichtig und erschließt sich erst allmählich. Bild um Bild, Teil um Teil, Zeichen um Zeichen setzen sich in additiver Weise zu einem Gesamtbild, zu einer Einheit und Ordnung zusammen. Die Dialektik von BOX I + II appelliert an unsere Sehgewohnheiten. Sie macht uns klar, daß Analyse und Synthese sowie Chaos und Ordnung nah beieinander liegen und weder das eine noch das andere ausschließlich Gültigkeit besitzt. Die Wahrheit, die uns Bielz und Schnell vermitteln, ist jedoch nicht in der Mitte zu suchen, sondern vielmehr in einem ständigen Pendeln und Oszillieren zwischen scheinbar gegensätzlichen Positionen, die in Wirklichkeit Bestandteil ein und desselben Systems sind.


Publiziert in:
Video 4, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck 1990.