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Pichler, Cathrin: Zu Territorism von Ruth Schnell


Zu Territorism von Ruth Schnell

Cathrin Pichler

Früher hat es Bilder in der Welt gegeben
Heute gibt es die Welt im Bild, richtiger: die Welt
als Bild, als Bilderwand, die den Blick pausenlos fängt,
besetzt, die Welt pausenlos abdeckt.

Günther Anders (Die Antiquiertheit des Menschen)


Zu sehen ist eine Hand, die einen Panzer fortbewegt. Der kleine Modellpanzer bewegt sich von einer Hand in die andere: ein Spiel? Jedenfalls ein Spielzeug, wenn auch eine getreue Nachbildung des echten Kriegsgeräts und eine Hand, die über ein Gelände führt – über unsichtbares Gelände, über dunkles Territorium. Natürlich wissen wir, dass das Sichtbare eine Projektion ist und der Untergrund eine Fassade, geborgtes Territorium, verfremdet, umso mehr, als auf einer weiteren Fassadenfläche eine zweite Hand auftaucht, die in die Aktion eintritt und so das „Spiel” erweitert.
Spätestens in dieser Verwirrung durch die Mehrdimensionalität der Bilder wird klar, dass wir es nicht mit einer Erzählung oder mit erzählenden Bildern zu tun haben, sondern dass wir mit Absicht in die Irre geführt werden und sich vor uns ein Labyrinth von Fiktion und Wirklichkeit, von Bildern der Erinnerung und künstlichen – medialen und virtuellen – Bilderwelten eröffnet.
Ähnlich einer Traumsequenz, in der reale Größenverhältnisse ebenso wie die Konventionen räumlicher Orientierung außer Kraft gesetzt sind, wird in Ruth Schnells Video-Projektion eine simple Handlung in eine fremdartige, irritierende Erfahrung umgewandelt.
Das Sichtbare ist zweifellos Fiktion, es provoziert andere Bilder: Bilder der Erinnerung und die zahllosen Bilder, die wir täglich in den Medien und in den Netzwerken sehen.
Die Bilder vom Krieg sind nicht nur mediale, künstliche Bilder, sie demonstrieren im letzten Jahrzehnt auch ein „virtuelles Kriegsgeschehen“, ein Geschehen, das nicht nur in seinen Abbildern entwirklicht erscheint, sondern das in seiner Strategie und Steuerung nur mehr in einer technologischen Sphäre abläuft, weit entfernt vom Territorium des Konflikts, unsichtbar und ungreifbar. Gewalt und Zerstörung erscheinen als Produkte der sprichwörtlichen „invisible forces“. Der moderne Krieg hat eine neue Virtualität eingeführt, eine Virtualität „zweiter Ordnung“, die den Krieg als Realgeschehen überholt hat.
Die führende Hand und der Panzer verweisen auf den realen Gehalt der Steuerung des Kriegs zurück: sie zeigen den Menschen als den letzten und wahren Akteur, demonstrieren seine Macht über das Materielle, das „in seiner Hand“ liegt und zeigen vielleicht auch ein Stück Gewalt.
Sichtbar wird dies aber wiederum in einer Projektion, in künstlichen Bildern: eine provokante Transformation, die noch einmal gesteigert wird, wenn mit Hand und Panzer noch einmal Spielzeug und Spiel assoziiert wird. Ein Spiel ist eine besondere Art von Fiktion, ein „Probehandeln“, ein Handeln nach erdachten Möglichkeiten – das Spiel ist Virtualität im ursprünglichen Sinn.
Als Metapher gelesen, kann „Krieg als Spiel“ auch für das Projekt Territorism stehen: das Thema ist die Differenz des Realen zu den Transformationen unserer Wahrnehmung, genauer, die Unterscheidbarkeit des Realen in der verdichteten Komplexität von medialen, virtuellen und imaginären Bildern, die unsere Aufmerksamkeit besetzen.
Noch einmal erfährt das Problem der Unterscheidbarkeit in Ruth Schnells Arbeit eine Verdichtung: der Ton zu der Videoprojektion vermischt das kratzende Geräusch des Modellpanzers am Boden mit von einer Stimme simulierten Detonationen und Gewehrsalven.
Ruth Schnell legt eine Sonde durch die parallelen Welten der virtuellen und fiktionalen Bilder unserer Wahrnehmung und unserer Gedanken und konfrontiert uns mit der Frage ihrer Lesbarkeit und Wahrnehmbarkeit. Sie konfrontiert mit dem Charakter des Sichtbaren in unserer Gegenwart – aber zugleich und spiegelbildlich – mit der Qualität unserer eigenen Erfahrung.

Publiziert in:
Ruth Schnell: Territorism. Broschüre zur Ausstellung im Kunsthaus Bregenz, Bregenz 2002